Von der Macht der Bild- und Symbolsprache – und wie es gelang, sie mit Müllsäcken zu entschärfen.
Von Valerie Profes, Astrid Rossegger, Jérôme Endrass
In den 1990er-Jahren begannen in vielen west- und ostdeutschen Städten Deutschlands regelmässige, oft wöchentliche Demonstrationen. Auf die Strasse gingen Deutsche, die in rechtsextremen Kreisen verkehrten. Ihr Ziel: Ihre Positionen als Teil eines legitimen Meinungsspektrums zu positionieren. Ihre Parolen und Spruchbänder lauteten unter anderem: «Gestern und heute – wir sind Hitlers Leute», «Palästina, hilf uns doch: Israel gibt’s immer noch» oder «Nie, nie, nie wieder Israel».
Offenbar hatten sich die Demonstranten rechtlich beraten lassen. Sie wählten zwar eine Sprache (in Ton und Symbolik), die eindeutig war und doch die Strafbarkeitsschwelle nicht klar überschritt. Auch verliefen die Kundgebungen gewaltlos.
Während sie unter der Strafbarkeitsschwelle blieben, richteten die Akteure gleichzeitig die Demonstrationen vermehrt auf eine einschüchternde Wirkung aus. Manche Parolen, etwa «Wir hängen nicht nur Plakate», konnten – aber mussten eben nicht – als Ankündigung von Gewalt verstanden werden. Die deutschen Behörden waren verständlicherweise besorgt. Wenngleich einzelne Aussagen im Demonstrationszug harmlos wirkten, wurde das Spektakel insgesamt als bedrohlich wahrgenommen. Es war das martialische Gesamtbild, das den Unterschied machte. Symbole wie Trommeln, Fackeln, Uniformen, Fahnen und das Marschieren in Formation lehnten sich an die Symbolsprache der Sturmabteilung (SA) im Nazi-Deutschland an. Gerade einmal fünfzig Jahre nach der Kapitulation Deutschlands stellte sich die Frage, ob der Nationalsozialismus erneut erstarkt und zunehmend den öffentlichen Raum für sich beansprucht.
Guter Rat war teuer. Das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte bereits in anderen Fällen deutlich gemacht, dass Verbote friedlicher Demonstrationen vor dem Hintergrund der Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit restriktiv zu handhaben sind. Zu Recht.
Es waren findige Beamte, denen es in einigen Bundesländern gelang, einen Weg zu erschliessen, um das hohe Gut der Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu schützen und doch der einschüchternden Symbolik der Massen Einhalt zu gebieten. Sie nahmen der Demonstration ihre gewaltassoziierte Bild- und Symbolsprache. Auflagen verboten das Tragen von Uniformen, das Mitbringen von Trommeln und das Marschieren im Gleichschritt. Die Demonstranten mussten zudem ihre Bomberjacke und Springerstiefel zu Hause lassen.
Die Polizei setzte die neuen Auflagen durch: Wer mit Springerstiefeln zur Demonstration erschien, musste sie vor der Kundgebung ausziehen (die Polizei hielt Säcke bereit, in denen die Schuhe aufbewahrt werden konnten) und auf Socken oder mit zur Verfügung gestellten Müllbeuteln als Schuhersatz demonstrieren, egal bei welchem Wetter – oder die Demonstration verlassen.
Dieser kreative und die demokratischen Grundrechte schützende Ansatz hat sich bewährt. Mittlerweile hat das BVerfG drei Kriterien entwickelt, bei denen es Auflagen für die Demonstration explizit stützt: Erstens, wenn die Kundgebung ein aggressives und provokatives, die Bürger einschüchterndes Verhalten der Teilnehmer beinhaltet, durch das ein Klima der Gewaltdemonstration und potenzieller Gewaltbereitschaft erzeugt wird.
Zweitens, wenn Rechtsextremisten einen Aufzug an einem Gedenktag, der speziell der Erinnerung an das Unrecht des Nationalsozialismus und den Holocaust dient, so durchführen, dass von seiner Art und Weise Provokationen ausgehen, die das sittliche Empfinden der Bürgerinnen und Bürger erheblich beeinträchtigen. Drittens, wenn ein Aufzug sich durch sein Gesamtgepräge mit den Riten und Symbolen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft identifiziert und durch Wachrufen der Schrecken des vergangenen totalitären und unmenschlichen Regimes andere Bürger einschüchtert.
Solche Auflagen für Demonstrationen sind ein wirksames Mittel. Die genaue Ausgestaltung (in welchem Kontext welche Symbole oder Parolen verboten werden können) kann aber nicht einmal festgeschrieben werden, sondern muss bei jeder Kundgebung neu beurteilt werden. In Deutschland hat das Thema spätestens mit Beginn der Pandemie und den Demonstrationen von Coronaleugnern, Reichsbürgern und Rechtsradikalen wieder neue Aktualität gewonnen. Es wird versucht, bundeseinheitliche Regelungen zu finden, beispielsweise in Bezug auf die Verwendung sogenannter Reichskriegsflaggen.
Demonstrationen bieten einen wichtigen Raum für öffentliche Debatten und politisches Engagement. Sie eröffnen auch Menschen, die kein Stimmrecht bei Wahlen haben, die Möglichkeit einer politischen Teilhabe. Zudem können Anliegen und Auffassungen in der Öffentlichkeit zum Ausdruck gebracht werden, die innerhalb der bestehenden demokratischen Verfahren oder Einrichtungen weniger zum Ausdruck kommen. Friedliche Demonstrationen sind durch die Grund- und Menschenrechte der Meinungsäusserungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit geschützt.
Auch in der Schweiz hat das Bundesgericht immer wieder den hohen Stellenwert der Versammlungsfreiheit für eine freie demokratische Willensbildung hervorgehoben. Dabei betont es auch, dass sich Demonstrationen im Gegensatz zu anderen Formen der Meinungsbildung nicht primär an Personen richten, die sich ohnehin bereits für ein bestimmtes Thema interessieren. Vielmehr sollen auch Passanten und Medien auf die jeweiligen Anliegen aufmerksam gemacht werden. Es stuft daher Demonstrationen als unentbehrlichen Bestandteil jeder demokratischen Verfassungsordnung ein – auch und besonders in politisch unruhigen Zeiten.
So wurden und werden in der Schweiz elementare politische Änderungen teils von Demonstrationen begleitet: sei es die Einführung des Frauenstimmrechts, die Abstimmung zur Masseneinwanderungsinitiative oder die Klimabewegung.
Mit den sozialen Medien sind Demonstrationen zwar nicht mehr die einzige Möglichkeit, politische Anliegen und Appelle in die Öffentlichkeit zu tragen oder Informationen zu vermitteln. Das Bundesgericht vertritt aber die Auffassung, dass Aktionen in den sozialen Medien in der Regel auf weniger Resonanz treffen als Veranstaltungen im öffentlichen Raum. Entsprechend gross war der Protest, als der Bundesrat im Frühjahr des ersten Pandemiejahres ein zweieinhalbmonatiges Demonstrationsverbot verordnete. Mittlerweile ist dieses Verbot durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als Verstoss gegen die Versammlungsfreiheit eingestuft worden.
Im Herbst 2023 wurde die Frage der Demonstrationsfreiheit erneut kontrovers diskutiert. Nach dem Terrorangriff der Hamas auf die israelische Bevölkerung am 7. Oktober 2023 kam es europaweit zu Kundgebungen mit mehr oder weniger stark ausgeprägtem anti-israelischen Charakter. In Grossbritannien hat sich das Demonstrationsgeschehen besonders auffällig entwickelt: Die «pro-palästinensischen» Demonstrationen werden teilweise von Gruppierungen wie den «Friends of Al-Aqsa» oder der «Hizb ut-Tahrir» organisiert.
Erstere steht der Hamas nahe und propagiert die Auslöschung des Staates Israel, und letztere ist eine islamistische Gruppierung, für die in Deutschland ein Betätigungsverbot wegen antisemitischer Propaganda gilt. Der «Hizb ut-Tahrir» wurde ein Verstoss gegen den Gedanken der Völkerverständigung vorgeworfen, ebenso die Befürwortung von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele.
An den Demonstrationen in Grossbritannien nahmen zuweilen über eine Viertelmillion Personen teil, ausgestattet mit Fackeln, Trommeln, Palästinaflaggen und Kefiya. Parolen wie «From London to Gaza – we’ll have an Intifada» wurden in dem Kontext als Aufforderung zur Hetze gegen die jüdische Bevölkerung Europas gelesen.
Auch in Deutschland und der Schweiz wurde und wird demonstriert. In beiden Ländern hat man zunächst mit Demonstrationsverboten reagiert, die absehbar auf Dauer nicht haltbar waren. Bei den Demonstrationen kommen Parolen wie «From the River to the Sea, Palestine will be free» zum Einsatz, die – zumindest in der Schweiz – wohl unterhalb der Strafbarkeitsschwelle liegen. Obwohl die von der PLO in den 1960er-Jahren in Umlauf ge-brachte Formulierung zumindest implizit als Aufruf zur Auslöschung Israels und zur Vertreibung von Jüdinnen und Juden aus ihrem Land verstanden werden kann. Gewisse Friedensaktivistinnen bestreiten den genozidalen Charakter des Slogans und beteuern, damit sei die Befreiung aller – auch der Jüdinnen und Juden Israels – gemeint. Realpolitisch klingt dies wohl eher weltfremd, naiv und reichlich konstruiert.
Der Slogan ist aber von der Meinungsäusserungsfreiheit gedeckt. So wie es «Wir hängen nicht nur Plakate» war.
Nur muss deutlich gemacht werden, dass damit eben keine genozidalen Absichten gehegt werden. Das Gesamtbild der Demonstration darf keinen bedrohlichen Charakter haben. Nehmen im Kontext der Kundgebungen aber antisemitische Übergriffe zu, wird deutlich, dass der Slogan nicht naiv war, sondern Ausdruck von Hetze und Agitation. Dann gehören die Spruchbänder im Vorfeld einer Demonstration zusammen mit den Springerstiefeln der Rechtsextremen von der Polizei eingesammelt.
Erschienen in Wendepunkte 3, Februar 2024
Illustration: Toby Neilan
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